Wolf Lützen

©Eröffnungsrede zur Ausstellung „Von Glück und anderen Materialien“ Heilandskirche Berlin-Tiergarten am 24.11.2017
Wolf Lützen 

(……) Ich versuche zu beschreiben, was Annette Domberger so macht. Sie findet, stolpert über etwas, greift es auf, nimmt es mit, gibt ihm eine, seine Umgebung, einen Raum, vereinzelt es, lässt ihm seine Individualität. Sie baut ihm eine Umgebung, macht eine Ordnung, klebt es ein, macht einen Beutel, vielleicht eine Schachtel, bringt es hinter oder unter halbtransparentes Papier, gibt ihm ein Zuhause. Reiht es ein. Sie macht aus mehreren Teilen eine Sammlung, versammelt Ding-Individuen zu Gruppen, möglicherweise Familien, fügt sie zusammen zu einem Archiv der Dinge. Und da sind sie, sorgsam hineingehoben in eine eigene kleine Welt, in die Sie eingeladen sind, Ihre Augen hineinzuführen, Ihre Phantasie hineinzubegeben.

Womit spielt Annette Domberger?
Nicht das Objekt, das noch erkennbar es selbst ist, das noch ganz ist, steht im Focus, sondern das Teil, das sein Zweckleben bereits durchlaufen hat, sich überlebt hat, das Fragment ist. Das normalerweise keine Funktion und keine praktische Bedeutung mehr hat.
Das Ding kann aus vielen Kontexten kommen, ist auf dem Weg zurück in die Natur, ist auf der Stufe des Zerfalls, des Abfalls oder Mülls. Ein Beispiel hier sind die Farb- und Rostpartikel, die sie beim Gang über eine Schiffswerft in Häufchen am Boden fand. Weitere sind handgeschriebene französische Briefe mit juristischem Inhalt, Papierschnitzel, Seekarten oder ein Relikt der Warenästhetik, ein altes Tapetenmusterbuch. Diese Dinge sind hier  aufgehoben, geborgen, respektiert.  Sie zählen hier als Farbe, Rhythmus, Struktur, der tatsächliche Inhalt z.B. der Seekarte hat keine Funktion.
Sie werden eingebunden in eine gestaltete Umgebung, in ein neu entworfenes Umfeld.
Was mit dem Sammeln von Treibgut – zuallererst übrigens für ihre Schüler – begann, das gilt mittlerweile für alle Arten von Abfall als Rohmaterial: auch für alte Akten, die durch den Reißwolf gejagt wurden wie für Bitumenpapier, das dem Schutz von Holz auf dem Transport diente. Diese Dinge werden ihrem üblichen Gang in den Müll entrissen und zum Material. Hier findet Annette Domberger ihr Glück.

Auf dem Dachboden ihrer Wohnung in Hamburg gab es eine große Portion von Ultramarin-Pigmenten. Dieses Eppendorfer Blau begleitet sie bis heute. Es hat immer wieder seinen Auftritt, als blaues Kreuz auf dem Bitumenpapier genauso  wie auf dem Farbkreis auf der Einladung. Und es gibt immer noch den Traum davon „die Farbe richtig zum Leuchten zu bringen.“  Wie Annette selbst formuliert. Das Finden von Dingen setzt offene Augen voraus, die Bereitschaft, sich vom Zufall einladen zu lassen. Feinfühliges Finden ist das Gegenteil von achtlos vorüber gehen.
Annette nimmt die Offerten und Gaben des Meeres, des Lichts, der Wanderung, des Alltags, der Zivilisation, des Augenblicks und der Dinge an, und sie nimmt sie auf. Es geht ihr um Fund-Dinge, um Eindrücke, um Fotos, um Reste, um Materialien und deren Kombination, um das Montieren, das Assoziieren, das Arrangieren, um das Träumen und das Zulassen der Dinge.

Gestatten Sie mir eine kleine Exkursion zu einem Geistesverwandten von Annette, dem französischen Lyriker Francis Ponge. Sartre bezeichnet ihn als „Dingliebhaber“. Ponge erklärt in seiner „Einführung in den Kieselstein“:  „Der Reichtum an Intentionen, die im geringsten Gegenstand enthalten sind, ist so groß, dass ich bisher nur die aller einfachsten Dinge begreife: einen Stein, einen Grashalm…ein Stück Holz“.  (S.259) Ich meine, dass der Ansatz von Francis Ponge, dem von Annette Domberger sehr verwandt ist, z.B. wenn er sagt: „Inmitten des außerordentlichen Umfangs und der Fülle der Erkenntnisse, die jede Wissenschaft erworben hat, und der vergrößerten Anzahl der Wissenschaften, sind wir verloren. Das Beste, was man tun kann, ist also, alle Dinge als unbekannt anzusehen und spazieren zu gehen oder sich unter Bäumen oder im Gras auszustrecken und alles noch einmal von vorn anzufangen.“ (Ponge: „Einführung in den Kieselstein“)
Sartre beschreibt die Auffassung Ponges von den Dingen so: „…das Sein jedes Dinges erscheint ihm wie ein Entwurf, wie eine Bemühung um Ausdruck, um den bestimmten Ausdruck einer bestimmten Nuance von Dürre, Staunen, Großzügigkeit, Unbeweglichkeit.“  (S.263)

Ich mache noch eine Anleihe bei Ponge. Wenn er über das Glück seiner Arbeit spricht, scheint  mir auch das übertragbar zu sein auf die Arbeit von Annette Domberger: „man sollte allen Gedichten diesen Titel geben können: Gründe, um glücklich zu leben. Für mich wenigstens ist jedes von denen, die ich schreibe, wie eine Notiz, die ich mir zu machen versuche, wenn aus einer Meditation oder Betrachtung in meinem Körper die Rakete einiger Worte emporschießt, die ihn erfrischt und ihn bestimmt, ein paar Tage weiter zu leben.“ (Ponge: „Gründe, um glücklich zu leben“)

Annette Domberger geht es um den Transfer, das Hinübergeleiten und – begleiten von Dingen in eine Welt, in der sie ihnen ein Zuhause gibt. In dem sie sie selbst und zugleich etwas Anderes sind, das im Gespräch mit anderen Dingen, Farben, Klängen, Ideen zu einem Mitspieler oder Instrument auf den kleinen Bühnen der hier versammelten Arbeiten werden. Nicht zufällig heißt eine der Arbeiten: Mise en scène. In diesen Arbeiten zeigen die Dinge, wie sie vom Objekt zum Darsteller werden, im Licht und im Zusammenhang von ästhetischen Spielhandlungen, in Montagen die Inszenierungen von Dingen und bildnerischen Mitteln sind.

Annette Domberger betreibt Wegrand-Spiele, hier werden Spuren verwischt und neue angelegt, hier gibt es ein Theater der Dinge und hier spricht ihre Poesie.

©Wolf Lützen

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