Dr. Roland Held / 2006

Eröffnungsrede zur Ausstellung  „Annette Domberger Collagen, Montagen, Objekte“ in der Kreuzkirche Nürtingen, 22. Oktober 2006
Dr. Roland Held

In meinem Katalog des Museums Heraklion und der archäologischen Stätten auf Kreta befindet sich auf Seite 42 die Abbildung eines wunderbaren spindelförmigen Väschens aus rosigem Bergkristall, dessen Henkel farblich hübsch kontrastiert, weil er gefertigt ist mittels auf Kupferdraht gezogenen, blaugrünen Glasperlen. Man sieht dem ganzen Gegen-stand an, daß er lange in kleine Splitter zerbrochen in der Erde gelegen hat und daß seine Finder ihn erst mühselig rekonstruieren mußten, bevor er museumswürdig war. „362 Einzelteile“ hat der Vorbesitzer des Katalogs – den ich mal antiquarisch erwarb – mit Tinte unter die Abbildung geschrieben, offensichtlich voll Staunen über die geleistete Tüftelarbeit. Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Annette Domberger das Museum in Heraklion und dazu eine Handvoll Provinzmuseen auf ihren Kreta-Urlauben immer wieder besucht. Und auch sie fügt, als Künstlerin, ihre Welt aus tausend Splittern zusammen. Nur daß diese Splitter von sich aus nichts Kostbares an sich haben. Im Gegenteil, es geht hier, außer Papier der unterschiedlichsten Sorten, um Materialien, denen man Abnutzungsspuren ansieht, ja daß sie irgendwann weggeworfen wurden oder zwischendurch verloren gegangen sind. Sogar dem von Annette Domberger selbst produzierten Material, mutwillig zerknittert, zerrissen, aus der angestammten Ordnung gebracht, eignet, so wie es ist, etwas von Aus-dem-Papierkorb-Gefischt oder Von-der-Straße-Aufgelesen oder Aus-dem-Garten-Gebuddelt.

„Ägäischer Fund“ ist ein besonders filigranes der heute ausgestellten Objekte betitelt, „Archäologos“ nennt sich eine ganze Objekt-Serie von in weißem Gips eingebetteten rätselhaften Relikten. Wäre also der Archäologe das Rollenmodell, dem diese Künstlerin folgt? Entspricht ihre Arbeitsweise der seinen? Das Gegenteil ist der Fall. Der Archäologe sucht gezielt, er erforscht ein Gelände intensiv und systematisch. Annette Domberger dagegen findet zufällig, eher extensiv, auf Spaziergängen am Meeresstrand, wo sie Treibgut aufliest, oder auf Alltagswegen durch die Großstadt, wo sie ein Auge entwickelt hat für das, was die Menschen achtlos dem Müll anheim geben. Zusätzlich kreiert sie sich Fundstücke sozusagen selbst, indem sie glattes Papier knittert und faltet oder aus auf dem Flohmarkt entdeckten, hundert und mehr Jahre alten Briefen Fetzen macht. In anderen Fällen läuft das über ihre charakteristische Art der seriellen Präsentation wie auf Schautafeln oder in Museumsvitrinen. Man könnte sagen – und das erinnert uns an das eingangs erwähnte Väschen –, daß der Ehrgeiz des Archäologen aufs Rekonstruieren zielt, während unsere Künstlerin zunächst mal ohne das Dekonstruieren nicht auskommt. Das heißt: ein Ding muß aus dem ursprünglichen Kontext, aus der einstigen Funktion herausgerissen sein, um für Annette Domberger verwendungsfähig zu werden. Und wie gesagt: im Zweifelsfall hilft sie noch ein bißchen nach. Dann erst kann, egal ob es sich um eine Collage, eine Zeichnung mit Collage-Einsprengseln oder eine Objekt-Montage handelt, das beginnen, was bei ihr Werk-Konstruktion ist. Nach dem Prinzip des Zusammenführens von heterogenen Formen funktionieren sogar ihre quicklebendigen reinen Zeichnungen. Schließlich der letzte, aber wesentliche Unterschied: während der Archäologe einer an herkömmlichem Sinn und Zweck orientierten Logik unterworfen ist, richten sich die Operationen der Künstlerin nach der Logik ihrer ureigenen Phantasie. Sind die Domberger’schen Stücke fertig, haben ihre Ingedienzien ihre früheren Definitionen abgestreift, um frei zu werden für neue Sinn-Verbindungen, für andere Mitteilungspotentiale.

Über die kunsthistorische Terminologie von Collage und Montage sind wir bereits gestolpert. Die vom französischen „coller“: kleben, und „monter“: anmontieren, zusammensetzen, abgeleiteten Begriffe werden häufig dann gebraucht, wenn von der Ära des Kubismus die Rede ist, als Picasso und Braque um 1910 mit in die Ölmalerei eingeschmuggelten Zeitungschnipseln, Metrofahrscheinen, Spielkarten, Tapetenstücken einerseits ein wenig Griffigkeit in eine immer unanschaulichere Kunst zurückbrachten, andererseits streng formale Untersuchungen betrieben bezüglich Flächigkeit und Raumtiefe, Gegenstandsillusion und -realität. Wir begegnen den Begriffen wieder im Zusammenhang mit den Dadaisten, die ein paar Jahre später Agitations- und Schockeffekte erzielten, indem sie gewohnte Elemente der Wirklichkeit in irrwitzig ungewohnte Paarungen zwangen. Wobei sie auch ungewohnte Werkzeuge benutzten. Wie stellte sich Kurt Schwitters bei den Berliner Dada-Kollegen vor: „Ich bin Maler, ich nagele meine Bilder.“ Meines Erachtens sind es freilich die Surrealisten, zu deren Praxis Annette Domberger die engsten Affinitäten hat. Wenn jene collagierten und montierten, war es ihnen weniger zu tun um Provokation um ihrer selbst willen; sie hofften damit stattdessen das Bewusstsein aus dem Sattel zu heben, zugunsten der schillernden Poesie, die aus den Erinnerungs- und Bild- und Gedankenverknüpfungen des Unterbewußten entspringt. Der Kunstphilosoph Dietrich Mahlow, lange Leiter der Kunsthalle Baden-Baden und 1981 verantwortlich für die Übersichtsausstellung „Prinzip Collage“, bleibt solchen Impulsen dicht auf den Fersen, wenn er schreibt: „Die Geschichte der Entwicklung der Collage ist nicht nur die Geschichte der Erweiterung der Kunst, sondern auch des Bewusstseins von Wirklichkeit.“

Das Besondere des Beitrags, den Annette Domberger nun schon seit mehr als zwanzig Jahren leistet, ist ihr ausgeprägtes, an der italienischen Arte Povera der siebziger Jahre geschultes Gespür sowohl für die visuellen und haptischen Qualitäten des Ausgangsmaterials wie für die daraus resultierende Komposition –  nicht zu vergessen die subtile Weise, auf welche sie die Assoziationen des Betrachters zu lenken weiß. Denn die heterogenen Elemente, die uns zunächst so verwirren, sind in eine Ordnung gebracht, die wenn nicht sinn-, so doch augenfällig ist. Wenn nicht im üblichen Verständnis wissenschaftlich, so doch kalkuliert ästhetisch. Kleben, Montieren, Ineinanderschneiden, Verschnüren, Aufspießen, Einbetten, Aufbocken sind nur einige der dabei zum Zuge kommenden handwerklichen Strategien. Dazu, wie gesagt, die Präsentation im auf museal getrimmten Kontext bzw. innerhalb der durch das Gleiche im Ungleichen verbundenen Serie, auch mal als schullandkartenartig aufgehängte Fahne. Kein Zweifel, Annette Domberger hat ein ausgesprochenes Händchen für ihr Material. Sie erlöst es aus seiner stofflichen Stummheit. Sie macht daraus ein Orchester, dessen Spektrum vom flüsternden Glissando des Knitterpapiers bis zum Pauken-schlag der massiven Stein- oder Holzeinlage reicht, obwohl nie ein Instrument schrill hervorsticht. Doch beweist sie darüber hinaus Köpfchen. Denn sie versteht es, ihrem Arrangement aus Vorgefundenem und eigenständig Hinzugefügtem Atmosphäre einzuhauchen, eine Kommunikationsfähigkeit, auch wenn diese, um sich zu artikulieren, nicht so sehr der Faktenvorbildung wie vielmehr der Phantasieleistung des Betrachters bedarf.

Programmatisch für den Domberger’schen Herangang benannt ist die Serie der „Fragmente“. Nachvollziehbar angeregt von den Museums-Exkursionen der Urheberin, scheinen viele von ihnen auf welligem, weil mehrfach übereinander verleimtem Seidenpapier unregelmäßige terrakottafarbene Scherben zu zeigen, Scherben, bedeckt mit feinen Reihen hieroglyphischer Zeichen. Daß sie mit den tatsächlichen Schriften aus dem minoischen Kreta nichts zu tun haben, versteht sich. Wir sollen bei ihrer Entzifferung nirgendwo anders nachschlagen können als in uns selbst. Eingeritzt wiederum präsentieren sich die Raster und Figuren, die in mehreren Objektkästen die Realgegenstände begleiten wie ein fachwissenschaftlicher Kommentar. Collage, Zeichnung und Malerei werden bemüht auf den Stationen der „Tagebuch“-Serie, jedes Blatt robustes Bitumen-Papier hier auf eigene Weise komplex gefaltet und gezinkt, verdichtet und versiegelt wie eine Tüte mit ominösem Inhalt, womöglich ein Kassiber, mit dem sich ein Eingesperrter oder Verbannter an unbekannte Adressaten wendet, um zu berichten vom Leben auf der lichtabgewandten Seite der Welt. In den verschiedensten Zusammenhängen taucht das Motiv des Fischs und des Boots in Annette Dombergers Schaffen auf – Symbole des geschmeidigen Zurücklegens von Entfernungen sowohl in der Weiten- als auch in der Tiefendimension, Symbole mithin für die Reisen unserer Vorstellungskraft.

Nochmals eine andere Thematik haben sich die uns nun bekannten künstlerischen Mittel erobert in der Serie „Vegetatives“. Diese nimmt ihren Ausgang von Makro-Fotografien, die Karl Blossfeldt, Autor des Buches „Urformen der Kunst“, in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts von Pflanzen machte, um ihren architektonischen Bau besser studieren zu können. Das Plastisch-Klare der Vorlagen nimmt Annette Domberger durch mehrschichtige Collagierung und Überzeichnung wieder zurück; sie hüllt die botanischen Gebilde dadurch in einen Schleier, der das Vegetative weniger als festes Phänomen denn als prozessuale Kraft erscheinen läßt. Dazu paßt, daß das Recycling-Papier selber, darauf die Blossfeldt-Fotos ausgedruckt sind, sich mit der Zeit unweigerlich verfärben und verändern wird. Der Betrachter, der es riskieren will, ist ermächtigt zu Rückschlüssen auf sich selbst, auf die eigenen Alters- und Reifeprozesse. Ist so auch die besonders aufwendige und schöne Zeichnung zu deuten, die „Was uns blüht“ betitelt ist? Skripturale Kritzelei geht darin nahtlos über in skizzierte Pflanzenteile, namentlich Knospen und Samenkapseln, ebenso wie Bleistift in Farbstift, Gezeichnetes in Wegradiertes und das wieder in Überklebtes oder Überkleckstes, vielschichtig wie das Palimpsest eines Mönchleins im Skriptorium eines mittelalterlichen Klosters……. Was uns blüht – die Tatsache, daß unser Ausstellungsort ausgerechnet eine Kirche ist, verführt mich dazu, für das Domberger’sche Leitmotiv des Zerstückelns und Neuzusammenfügens kulturgeschichtliche Vorläufer zu suchen, die weiter zurückreichen als der behagliche Goethe-Satz: „Jede methodische Zusammenstellung zerstreuter Elemente bewirkt eine Art von geistiger Geselligkeit, welche denn doch das höchste ist, wonach wir streben.“ Nein, viel weiter zurück, wie ich angekündigt habe, in biblische Zeiten müssen wir uns wenden, um zu hören, was der Prediger Salomo 3, 1-8 anzubieten hat an illusionslosen Einsichten zur dialektischen Natur des Daseins und zu den konträren Tätigkeiten, damit wir es erfüllen: „Ein jegliches hat seine Zeit, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde./Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, das gepflanzt ist,/morden und heilen, zerbrechen und aufbauen,/ weinen und lachen, klagen und tanzen,/Steine zerstreuen und Steine sammeln…/ suchen und verlieren, behalten und wegwerfen,/zerreißen und zunähen, schweigen und reden,/lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.“ Jede Menge Ratschläge, meine Damen und Herren, die von Annette Dombergers Zeichnungen, Collagen und Montagen längst handfest beherzigt worden sind!

zurück / back